Erwachsenenprojekt über die Köpfe der Betroffenen hinweg:
Jugendliche ohne Interesse am Wählen ab 16
In fast allen Landtagen haben Grüne, Linke und Piraten in den letzten Monaten Anträge eingebracht, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken. Auch die SPD hat sich bei ihrem Parteikonvent am 16. Juni 2012 dieser Forderung angeschlossen: „Wir wollen das Wahlalter bei Kommunal-, Landes, Bundestags- und Europawahlen auf 16 Jahre absenken.“ Die Piratenpartei beantragte im Berliner Abgeordnetenhaus unter der Überschrift „Wahlrecht ohne Altersbegrenzung“ sogar das aktive Wahlrecht bereits mit 7 Jahren.
Tatsächlich gesenkt wurde das Wahlalter unter die Volljährigkeit bei Landtagswahlen bisher nur in Bremen und in Brandenburg. Nur in Bremen haben Landtagswahlen bereits unter diesen Bedingungen stattgefunden. Bei Kommunalwahlen gilt das Wahlalter ab 16 in 7 der 16 Bundesländer.
Es handelt sich bei der Absenkung des Wahlalters unter die Volljährigkeit allerdings offenkundig um ein Erwachsenenprojekt, dem die betroffenen minderjährigen Jugendlichen sehr skeptisch gegenüberstehen. Dies bestätigen alle bisherigen Umfragen und Studien:
- In Deutschland wurden in der 15. Shell-Jugendstudie 2006 insgesamt 2.532 Jugendliche im Alter von 12-25 Jahren gefragt: „Wie finden Sie die Idee, die Altersgrenze für die Teilnahme an Bundestagswahlen von 18 Jahren abzusenken, so dass man schon ab 16 Jahren wählen könnte?“ 52 Prozent der Befragten lehnten dies ab, 24,7 Prozent stimmten zu und 22,8 Prozent meinten, es sei ihnen egal.[1]
- Anfang 2009 führte die „Grüne Jugend Ostalb“ eine Umfrage zum Wahlrecht ab 16 bei mehr als 550 Aalener Schülern durch. Auf die Frage „Hältst du das Wahlrecht ab 16 für sinnvoll?“ antworteten 58 Prozent mit „nein“ und nur 24 Prozent mit „ja“. 18 Prozent konnten sich nicht entscheiden. Das Fazit der Grünen Jugend lautete: „Ein Großteil der Jugendlichen hält das Wahlrecht ab 16 nicht für sinnvoll. Hier zeigt sich, dass die Jugendlichen sich noch sehr unsicher fühlen“.[2]
- Im Sommer 2010 ergab eine Forsa-Umfrage in Berlin, dass 63 Prozent der befragten Jugendlichen im Alter von 14-29 Jahren das Wahlrecht ab 16 Jahren für sich ablehnen. Die Ablehnung in der Gesamtbevölkerung lag bei 77 Prozent.[3]
- Die Studie „Jugend in Brandenburg 2010“ ergab bei der Befragung 3.132 Jugendlichen im Alter von 12-20 Jahren für dieses Bundesland: „Eine Zustimmung für eine Herabsetzung des Wahlalters von 18 auf 16 Jahre äußern 33,9 Prozent der Jugendlichen.“[4]
Der internationale Vergleich bestätigt diese Daten:
- Eine Befragung von 914 Schülern in Großbritannien ergab 2003, das nur 32 Prozent der 17/18-jährigen das Wahlalter unter 18 Jahre senken wollten.[5]
- In den USA ergab 2006 eine Onlinebefragung, an der 6200 Jugendliche im Alter von 12- 24 Jahren teilgenommen hatten, dass nur 28,2 Prozent der 15-17-jährigen eine Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre befürwortete. 19,7 Prozent plädierten für das Wahlrecht ab 17. Zugleich sagten 60 Prozent dieser Altersgruppe, dass weniger ein Viertel ihrer Altersgenossen qualifiziert seien, schon mit 16 zu wählen.[6]
- In Österreich zeigte 2007 selbst kurz vor Einführung der Wahlberechtigung ab 16 eine Umfrage unter 700 Jugendlichen ein sehr gespaltenes Bild. Von den 14-17-jährigen waren nur 47 Prozent für die Senkung des Wahlalters, 46 Prozent dagegen, sieben Prozent hatten keine Meinung. Bei den 18-24-jährigen überwog mit 63 Prozent die Ablehnung.[7]
- 2009 erbrachte eine Befragung von 1.114 britischen Jugendlichen Jahren bei 37 Prozent der 16-18-jährigen eine starke Zustimmung zur Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre, bei 16 Prozent eine schwache Unterstützung. 40 Prozent lehnten die Idee ab.[8]
- In Schottland – wo ein Wahlrecht ab 16 von der Regionalregierung seit langem befürwortet und vorbereitet wird – hatten bis Oktober 2012 nur ca. ein Drittel der 16/17-jährigen ihr Recht genutzt, sich in die Wahlregister einzutragen.[9]
Schon weil dazu praktisch keine Daten vorliegen, lässt sich auch aus der tatsächlichen Wahlbeteiligung von 16/17-jährigen kein mehrheitliches Interesse dieser Altersgruppe an einer Senkung des Wahlalters ablesen:
- So stellte nach der ersten deutschen Landtagswahl mit 16/17-jährigen Wählern in Bremen 2011 der Landeswahlleiter unter Verweis auf die Wahrung des Wahlgeheimnisses fest, dass „die Altersgruppe der Wahlberechtigten im Alter von 16 bis unter 18 Jahren nicht eigenständig dargestellt werden“[10]kann.
- 1998 hatte bei der Kommunalwahl in Neumünster eine Befragung von 16/17-jährigen Wähler eine Wahlbeteiligung von nur knapp 40 Prozent ergeben.[11]
- 2011 hat die Landesregierung von Sachsen-Anhalt die Erfahrungen mit dem dort seit 1999 geltenden kommunalen Wahlrecht ab 16 so zusammengefasst: „Die tatsächliche Wahlbeteiligung der sogenannten Jungwähler führt ebenfalls nicht zwangsläufig zu dem Schluss, dass eine Änderung des Wahlrechtes notwendig ist. … Die praktischen Erfahrungen der Kommunalwahlen zeigen jedenfalls, dass die Beteiligung in der Altersgruppe der 16- bis unter 18-Jährigen in den aufgezeigten Jahren unterhalb der durchschnittlichen Wahlbeteiligung lag“.[12]
Alle vorliegenden Daten zeigen, dass die meisten Jugendlichen von einer Senkung des Wahlalters unter die Volljährigkeit nichts halten.
Wer das Wahlalter dennoch absenken will, kann sich also nicht auf den Wunsch der Mehrheit betroffener Jugendlicher berufen.
[1] http://de.statista.com/statistik/daten/studie/177098/umfrage/ansicht-zur-wahlberechtigung-fuer-bundestagswahlen-ab-16-jahren/ (vgl. Klaus Hurrelmann, Mathias Albert: Jugend 2006. 15. Shell Jugendstudie: Eine pragmatische Generation unter Druck, Frankfurt a. M. 2006)
[2] http://gj-ostalb.de.tl/Umfrage-zum-Wahlrecht-ab-16.htm
[3] Berliner Zeitung 26.6.2010
[4] http://www.mil.brandenburg.de/sixcms/media.php/4055/JiB-2010-EB_Kurzfassung-end.pdf.
[5] The Nestle Family Monitor „Young People´s Attitudes towards Politics“, 2003[6] http://www.youthrights.org/docs/LoweringVotingAge_PollAnalysis.pdf
[7] Die Presse 8.5. 2007
[8] http://www.liv.ac.uk/politics/staff-pages/YCC_Voting_Age_Final_Review.pdf
[9] Vgl. The Guardian 11. Oktober 2012 (In Großbritannien ist eine Wählerregistrierung notwendig, die mit dem Eintrag ins das Einwohnermelderegister in Deutschland vergleichbar ist. Dabei können sich schon 16/17-Jährige bereits registrieren lassen, wenn ihr 18. Geburtstag vor der nächsten Wahl eintritt (die sog. „attainers“).
[10] Statistisches Landesamt Bremen, Statistische Mitteilungen Heft 113/2011.
[11] Ulf Schloßbauer, Jugendliche wählen ganz anders als man glaubt (ergänzendes Projektbeispiel 2), Veröffentlichung im Rahmen der Beteiligungsbausteine des Deutschen Kinderhilfswerkes e.V.
[12] Landtag Sachsen-Anhalt, Drucksache 6/399 vom 13.09.2011
Ich bin gerade einmal 15 Jahre alt und ich weise die Vorwürfe was die Teilnahmslosigkeit von Jugendlichen betrifft entschieden zurück. Ich bereite mich gerade auf mein Abitur vor und daher kann ich aus eigener Erfahrung sagen, dass es weit mehr Jugendliche gibt die sich für Politik interessieren. Sie sind mit den deutschen Wahlen bestens bekannt und ebenso mit den Überzeugungen einzelner Parteien und Kandidaten. Das deutsche Schulsystem fordert heutzutage schon in sehr, sehr jungem Alter Reife von uns Jugendlichen. Ich gestehe ein, dass ich selbst bis jetzt keinen Anlass sah meine ohnehin begrenzte Freizeit mit Recherchen zu verbringen, würde mich aber sehr darüber freuen an den Kommunalwahlen beteiligt zu werden und meine Pflicht, mir gewissenhaft eine eigene Meinung anzueignen, unbedingt wahrnehmen. Ich hoffe ich war deutlich.
Zunächst Glückwunsch zur tollen Leistung, mit 15 schon vor dem zu stehen …
Im übrigen geht es nicht um Vorwürfe an irgend jemand, sondern um eine nüchterne Betrachtung der Fakten. Es ist eben falsch zu behaupten, das Wahlalter müsse gesenkt werden, weil die betroffenen minderjährigen Jugendlichen mehrheitlich dafür seien. Alle (!) Umfragen und Studien zeigen, dass dies nicht der Fall ist.
Ich wurde mit 21 volljährig, übernahm aber mit 18 als Gruppenführer bei der Bundeswehr Verantwortung für meine Leute. Ich habe diese Verantwortung nicht von meinem Alter oder von der Volljährigkeit abhängig gemacht, sondern von der Aufgabe. Wahrscheinlich habe ich damals auch Entscheidungen getroffen, die ich heute als Jugendsünden abtun würde. Aber hätte ich deshalb verweigern, oder der Einberufung vor der Volljährigkeit widersprechen sollen? Wenn ich richtig lese, haben sie damals ähnlich entschieden. Meine Überzeugung ist, dass Verantwortungsbewusstsein spätestens dann entsteht, wenn die Verantwortung abgefordert wird. Ein frühes Wahlrecht auf der überschaubaren kommunalen Ebene kann dieses bewirken.
Wegen der Diskrepanz zwischen Wehrpflicht und Wahlrecht/Volljährigkeit wurde die Volljährigkeit (und damit das Wahlrecht) zu Recht von 21 auf 18 Jahre gesenkt. Ich halte wegen der Zusammengehörigkeit von Rechten und Pflichten nichts von der Trennung von Wahlrecht und Volljährigkeit. Ich halte übrigens auch die von Ihnen offenbar befürwortete Trennung zwischen aktivem und passivem Wahlrecht für widersprüchlich. Das passive Wahlrecht wiederum kann nur im Rahmen der Volljährigkeit gewährt werden, weil ansonsten die Eingriffsmöglichkeiten der Erziehungsberechtigten der Freiheit des Mandats entgegenstehen.
Wie esagt: Das Wahlrecht ist zu fundamental für die Demokratie als dass mann es zum Experimentierfeld oder pädagogischen Anreizsystem zweckentfremden dürfte.
Der Abend verspricht spannend zu werden. Es wäre falsch, ihre Gedanken gänzlich zu verneinen. Wahrscheinlich liegen wir bei der Beurteilung der Risiken gar nicht so weit voneinander. Wohl aber in der Beurteilung der Chancen. Ich mag ein Idealist sein, meine Erfahrung sagt mir aber, dass sich aus einer übernommenen Aufgabe und der damit verbundenen Verantwortung auch ein Pflichtbewusstsein entwickelt. Das Wahlrecht ist solch eine hohe Verantwortung. Wer hingegen nicht zur Verantwortung gezogen wird, mag auf dem Papier noch so viele Pflichten haben, er wird ihnen häufig nur unter Zwang nachkommen. Ich vermute einmal, dass Sie das nicht gänzlich anders sehen als ich. Was also sollte man fördern? Eine erzwungene Pflicht, oder das aus Verantwortung entwickelte Pflichtbewusstein?
Uns unterscheidet, dass für Sie das Wahlrecht eine Art Spielfeld fürs Erwachsenenwerden zu sein scheint. Ich halte es für zu grundlegend, um es zu einem solcher Experimentierlandschaft zu machen. Schrittweise Verantwortungsübernahme und das Wachsen an übernommenen Aufgaben – solche Überlegungen sind ja völlig richtig. Deshalb bin ich beispielsweise ein engagierter Verfechter von Schülermitverantwortung – SMV sagte man damals bei uns – oder dem Verantwortungstraining in der außerschulischen Jugendarbeit. Das Wahlrecht ist mir für dererlei zu grundlegend, denn dabei geht es nicht um ein Trainingscamp, sondern um ein sehr reales Grundelement der Demokratie. Mit 17 zwar kein Auto ohne Begleitung fahren zu dürfen, zum Heiraten das familiengerichtliche Einverständnis und einen volljährigen Ehepartner zu brauchen und keine Kaufverträge abschliessen zu dürfen – aber gleichzeitig wählen zu dürfen, wiederum aber nicht gewählt werden zu können … Die Aneinanderreihung von Widersprüchen ist dabei doch augenfällig.
Jugendliche die „Bonn stellt sich quer“ organisieren, wollen und müssen auch politisch mitsprechen können. Es geht hier nicht darum, ob sie die Mehrheit der Jugendlichen repräsentieren. Sondern darum, ob sie das Recht dazu bekommen, sich aktiv an unserer Demokratie und unserer Zukunft zu beteiligen. Im Gegensatz zu jenen, die aus Frust oder Desinteressse die Politik ausklammern und auf Dauer als Nichtwähler unsere Demokratie ad absurdum führen
Für die Abkopplung des Wahlrechts von der Volljährigkeit werden die unterschiedlichsten Gründe angeführt, die jeweils nicht stichhaltig sind: https://burgerbeteiligung.wordpress.com/2012/06/05/wahlrecht-volljahrigkeit-und-politikinteresse/
Eine der falschen Behauptungen ist, dass minderjährige Jugendliche mehrheitlich das Wahlrecht für sich wünschen. Wie gezeigt ist das falsch. Daran ändern auch kleine Gruppen nichts, die eine andere Meinung vertreten.
Alle Untersuchungen zeigen, dass die Senkung des Wahlalters ein Erwachsenenprojekt über die Köpfe der Jugendlichen hinweg ist. Manchen Erwachsnen fällt es schwer, das einzugestehen.
Schade, dass ich so missverstanden wurde. Das normale Schiksal eines Piraten. Aber auch ich bin überzeugt, dass die Mehrheit der Jugendlichen sich das Wahlrecht (leider) nicht explizit wünscht. Und ja, es gibt Jugendliche, die nicht die Reife haben, sich selbst zu organisieren oder politisch wohl überlegte Entscheidungen zu treffen. Das ist aber auch mit 18+ nicht auszuschließen. Ich habe hier nicht als Pirat gesprochen, sondern als Vater eines 17-jährigen Sohnes, der dessen Gedanken und die seiner Freunde beobachtet. Einige davon sind extrem engagiert und können die kommunale Politik verantwortlich mitbestimmen. Diesen jungen Leuten das Recht zur Wahl zu geben, würde unsere politische Welt beleben. Jeder einzelne davon ist ein Gewinn für die Demokratie. Btw.: Wenn denn die Aussagen stimmen, dann sind es ja nur wenige Jugendliche, die das Angebot wahrnehmen würden. Täte keinem weh, wäre aber gerecht. Oder ist da doch ein bisschen Angst dabei, dass Jugendliche nicht unbedingt Ihre Meinung vertreten?
Das Wahlrecht ist kein pädagogisches Instrument, sondern Grundelement freiheitlicher Demokratie. Dieses Bürgerrecht kann nicht einfach von den dazu gehörenden Bürgerpflichten abgekoppelt werden. Vornehmste Bürgerpflicht ist die Übernahme der vollständigen Verantwortung für das eigene Handeln und seine Folgen wie es mit der Volljährigkeit eintritt. Ich halte es deshalb für falsch, das Wahlrecht von der Volljährigkeit zu entkoppeln: Wenn die Gesellschaft jemanden bis zum 18. Lebensjahr nicht die Fähigkeit zur vollständigen Entscheidung über sein eigenes Leben zuspricht, ist es widersinnig ihm zugleich das Recht zu geben, über das Schicksal anderer zu bestimmen. Oder plädieren Sie von eine Herabsetzung der Volljährigkeit ?