Den folgenden Text können Sie hier ausdrucken.
Stephan Eisel
Bonner Experiment mit ausschließlicher Briefwahl
Plebiszit-Beteiligung bleibt signifikant unter Wahlbeteiligung
Im April 2017 fand zum ersten Mal ein Bürgerentscheid in der Bundesstadt Bonn statt. Dies verdient besondere Aufmerksamkeit, weil dabei erstmals in einer größeren Stadt das Verfahren einer ausschließlichen Briefwahl praktiziert wurde. Das heisst, alle Wahlberechtigten erhielten ihren Stimmzettel zugesandt und konnten ihn innerhalb von drei Wochen zurückschicken. Die Urnenwahl an einem bestimmten Tag entfiel.
Mit diesem Verfahren ging Bonn über das übliche Briefwahlverfahren hinaus, bei dem den Wahlberechtigten eine Wahlbenachrichtigung zugesandt wird, aufgrund derer sie Briefwahlunterlagen anfordern und erst nach deren Erhalt in einem zweiten Schritt die Briefwahl vornehmen können.
Die Ergebnisse des Bonner Experiments zeigen allerdings, dass auch mit einer ausschließlichen Briefwahl die grundlegenden Probleme plebiszitärer Verfahren nicht behoben werden:
1) Plebiszitäre Beteiligung bleibt deutlich unter Wahlbeteiligung
Mit dem in Bonn praktizierten Verfahren einer ausschließlichen Briefwahl wurde zwar eine für kommunale Bürgerentscheide leicht überdurschnittliche Beteiligung von 39,3 Prozent erreicht. Die Beteiligung an plebiszitären Verfahren liegt ansonsten im Bundesdurchschnitt bei etwa einem Drittel der Wahlberechtigten. Den Spitzenwert in Nordrhein-Westfalen erreichte 2012 Münster bei einem Bürgerentscheid mit einer Beteiligung von 40,3 Prozent.
Vor allem blieb trotz der direkten Zusendung des Stimmzettels an jeden Wahlberechtigten die Beteiligung beim Bonner Bürgerentscheid deutlich unter der Wahlbeteiligung der letzten Kommunalwahlen (2014), die bei 56,8 Prozent gelegen hatte. Dieser signifikante Beteiligungsunterschied von 17,5 Prozent liegt nur geringfügig unter den in der Regel 20-25 Prozent, mit denen die Beteiligung an plebiszitären Verfahren hinter der Wahlbeteiligung auf der jeweiligen Ebene zurückbleibt.
Die Beteiligungszurückhaltung im Vergleich zu Wahlen gilt nicht nur für Plebiszite in Sachfragen, sondern auch für plebiszitäre Personalentscheidungen, wie z. B. Direktwahlen von Oberbürgermeistern. Durchschnittlich liegt die Beteiligung hier bei etwa 35 Prozent. In keiner deutschen Großstadt mit mehr als 100.000 Einwohnern amtiert ein Oberbürgermeister aufgrund einer Wahl, an der sich mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten beteiligt hat, wenn diese Wahl nicht mit einer allgemeinen Wahl wie der Rats-, Landtags-, Bundestags- oder Europawahl zusammengefallen ist. 19 von 73 Oberbürgermeistern in deutschen Großstädten amtieren sogar aufgrund von Wahlen, an denen weniger als ein Drittel der Wahlberechtigten teilgenommen hat. Bonn ist eine von nur sechs Städten mit über 100.000 Einwohnern, in denen die Beteiligung an OB-Direktwahlen, die nicht mit anderen Wahlen zusammenfielen, über 45 Prozent lag. Insofern überrascht es nicht, dass die Beteiligung am Bonner Bürgerentscheid fast an die Beteiligung an der letzten OB-Wahl (45,1 Prozent 2015) heranreicht.
Auffällig ist beim Bonner Bürgerentscheid, dass trotz der direkten Zusendung der Stimmzettel ein erheblicher Beteiligungsunterschied in einzelnen kommunalen Wahlbezirken der Stadt zu verzeichen ist, der von 24,6 Prozent bis 53,8 Prozent reichte. Allerdings gab es eine solche Beteiligungsspreizung auch bei den zurückliegenden Ratswahlen (36 Prozent bis 69 Prozent), wobei die Wahlbezirke mit der jeweils geringsten Beteiligung identisch sind. Die direkte Zusendung der Stimmzettel hat daran nicht geändert.
Eine Besonderheit ist allerdings, dass im Unterschied zur Kommunalwahl beim Bürgerentscheid die Beteiligung in einem der vier Stadtbezirke – nämlich in Bad Godesberg -deutlich abwich und um über zehn Prozent höher lag. Ein solcher Unterschied war bei allgemeinen Wahlen in Bonn nicht festzustellen und ist offenkundig auf die Fragestellung des Bürgerentscheids zurückzuführen.
2) Abstimmungsfrage unterschied sich vom Abstimmungsgegenstand
Auf dem Stimmzettel des Bonner Bürgerentscheids stand die Frage: „Soll das Kurfürstenbad erhalten, wieder nutzbar gemacht und saniert werden?“ Sie betraf ein Stadtteilbad in Bad Godesberg, das schon seit einigen Monaten geschlossen war und für dessen Erhalt ein erfolgreiches Bürgerbegehren durchgeführt worden war, das wiederum den Bürgerentscheid ausgelöst hatte. Damit war auch die Fragestellung im Bürgerentscheid vorgegeben.
Trotz dieser im Wortlaut rein stadtteilbezogenen Frage ging es bei dem Bürgerentscheid im Kern um die grundsätzliche die gesamte Stadt betreffende Frage, ob dem Bau eines neuen Schwimmbades der Vorzug vor der Sanierung alter Hallenbäder gegeben werde solle. Diese Alternative fand sich zwar nicht auf dem Stimmzettel, wurde aber von der Bürgerinitiative „Kurfürstenbad bleibt!“ sowie allen Ratsfraktionen und dem Oberbürgermeister in einem offiziellen städtischen „Abstimmungsheft“ mit jeweiligen „Stimmempfehlungen“ in den Mittelpunkt gestellt. Dieses „Abstimmungsheft“ war (aus Kostengründen) jedoch nicht mit dem Stimmzettel versandt, sondern nur zur Abholung angeboten worden. Nach städtischen Angaben machten davon weit weniger als 2.000 Wahlberechtigte Gebrauch.
Wer die mediale Diskussion verfolgte, das „Abstimmungsheft“ oder Werbeschriften der verschiendenen Akteure gelesen hatte, befand sich auf einem anderen Informationsstand als derjenige, der nur die Frage auf dem zugesandten Stimmzettel beantwortete.
Die direkte Zusendung der Stimmzettel behob insofern nicht ein entscheidendes Grundproblem plebiszitärer Verfahren: Oft verbirgt sich hinter der Frage auf dem Stimmzettel eine viel weitergehendere Entscheidungsalternative mit Entscheidungsfolgen, die sich aus der gestellten Abstimmngsfrage nicht erschließen. Dies hat auch mit der Notwendigkeit zu tun, mit der Formulierung der Fragestellung oft unzulässig vereinfachende JA/NEIN-Antwort zu ermöglichen. In jedem Fall hat die Formulierung der Abstimmungsfrage Einfluss auf das Ergebnis der Abstimmung.
Beim Bonner Bürgerentscheid weisen sowohl die signifikant unterschiedliche Abstimmungsbeteiligung in den Stadtbezirken als auch die örtlich sehr unterschiedlichen Abstimmungsergebnisse darauf hin, dass viele Wahlberechtigte ein unterschiedliches Abstimmungsverständnis hatten. Gesamtstädtisch wurde mit 51,6 Prozent NEIN-Stimmen und 48,3 Prozent JA-Stimmen die Sanierung des Godesberger Kurfürstenbades knapp abgelehnt – besonders deutlich in den Ortsteilen, wo das neue Schwimmbad gebaut werden soll. Im Stadtbezirk Bad Godesberg votierten hingegen 67,5 Prozent für die Sanierung. Das galt auch für einen Ortsteil im Bonner Norden, wo die Sanierung eines anderen Hallenbades umstritten ist.
Schon mit der Bekanntgabe des Ergebnisses begann folgerichtig der Streit um dessen Interpretation. Es entsprach jedenfalls nicht der auf dem Stimmzettel gestellten Frage und wurde deshalb zu Recht kritisiert, dass die Stadt Bonn dieses Ergebnis in ihrer offiziellen Mitteilung unter der Überschrift „51,64 Prozent stimmten für ein neues Schwimmbad“ gab.
3) Quorum als Legitimationsproblem
Der Bonner Bürgerentscheid hatte insofern ein untypisches Ergebnis, als er nicht dem bundesweit dominierenden Trend entsprach, dass plebiszitäre Verfahren den status quo bevorzugen und Veränderungen erschweren. Im vorliegenden Fall war – wenn auch knapp – die Ratsentscheidung einer Schwimmbadschließung im Bürgerentscheid bestätigt worden. Allerdings steht dieses Ergebnis nicht im Zusammenhang mit dem erstmals angewandten Verfahren einer ausschließlichen Briefwahl. Dieses Verfahren behebt nicht das grundsätzliche Problem, dass plebiszitären Verfahren mit deutlich geringerer Beteiligung Entscheidungen der durch eine wesentlich höhere Wahlbeteiligung legitimierten Parlamente aushebeln können.
1994 verlangte das Gesetz in NRW für einen erfolgreichen Bürgerentscheid noch die Zustimmung von 25 Prozent der stimmberechtigten Bürger. Im Jahr 2000 wurde diese Quote auf 20 Prozent und ab 2012 für Städte über 100.000 Einwohnern auf 10 Prozent reduziert. Der Lobbyverband „Mehr Demokratie“ hat nach dem Bonner Bürgerentscheid sogar ausdrücklich die Abschaffung jeglicher Quoren gefordert. Da dies zur Folge hätte, dass plebiszitäre Minderheiten regelmäßig die Mehrheit der Wahlbürger überstimmen können, kann dann allerdings nicht von mehr, sondern nur noch von weniger Demokratie die Rede sein.
Dies könnte vermieden werden, wenn sich die Beteiligungsanforderungen bei Plebisziten an der jeweiligen Wahlbeteiligung orientieren. Als Beteiligungsquorum für den Erfolg eines Bürger- oder Volksentscheids sollte also die Beteiligung an der letzten entsprechenden Wahl in der jeweiligen Gebietskörperschaft gelten. Ein solches Quoren würde sicherstellen, dass die Ergebnisse von Bürger- bzw. Volksentscheiden – unabhängig von anderen grundsätzlichen Problemen plebiszitärer Verfahren – zumindest im Blick auf die Beteiligung die gleiche Legitimationsgrundlage wie die Entscheidungen gewählter Parlamente haben.
Wer Bürgerbeteiligung ernst nimmt, darf jedenfalls nicht ignorieren, dass viele Bürger eine deutliche Distanz gegenüber plebiszitären Verfahren zeigen. Das wird nicht nur am Beteiligungsdefizit gegenüber deutlich: Vor einiger Zeit hatte Bertelsmann-Stiftung ermittelt, dass 94 Prozent (!) der Bundesbürger in Wahlen die beste Form der politischen Beteiligung sehen. Volksentscheide oder Abstimmungen über Infrastrukturprojekte kommen auf nur 78 bzw. 68 Prozent Zustimmung. 39 Prozent der Bundesbürger wollen sich über Wahlen hinaus ausdrücklich nicht am politischen Prozess beteiligen. Sie nehmen ihr Recht der Delegation ihrer Mitwirkungsrechte auf von ihnen gewählte Vertreter wahr. Das Bonner Experiment einer ausschließlichen Briefwahl kann dieses Legitimationsproblem plebiszitärer Verfahren nicht befriedigend beantworten.
Gibt es eigentlich auch eine „Bürgermeisterwahl-Distanz“ oder eine „Landratswahl-Distanz“, wo die Beteiligung an solchen Wahlen doch auch meist viel niedriger ist als an Kommunalwahlen? Oder hat die niedrigere Beteiligung hier den gleichen Grund wie die niedrigere Beteiligung an Bürgerentscheiden, nämlich einfach geringere Relevanz und damit weniger Wählermobilisierung?
Und haben Räte tatsächlich eine höhere Entscheidungslegitimation, wenn Mehrheiten für Entscheidungen oft nur durch Koalitionskompromisse von Fraktionen zustande kommen, von denen keine vom Wähler die absolute Mehrheit enthalten hat? Wenn also schon wenige Sitze im Rat reichen, um eine Entscheidung im eigenen Sinne herbeizuführen?
Was sagen Sie dazu, dass die Beteiligung an Bürgerentscheiden mit Quoren im Schnitt niedriger ist als die an Bürgerentscheiden mit Quoren? Und was zu den immer wieder neuen Versuchen, die Beteiligung an Bürgerentscheiden zu erschweren und damit niedrig zu halten, was nur wegen der Quoren Sinn ergibt?
Dass Bürgerentscheide leicht manipulierbar wären, ist schon wieder eine Behauptung ohne empirischen Beleg.
Danke übrigens für die Bezeichnung „Lobbyverband“. Lobbyismus für Demokratie ist für uns nichts Verwerfliches.
P.S.: Zur Aktion WHlhelfer: Wirbt die CDU bei ihren Online-Aktionen nicht um Newsletter-Abonnenten und Mitglieder?
Bei der Kommentierung von Beiträgen auf diesem Blog hilft es, diese zuvor zu lesen. Zu Ihrer Frage habe ich in meiner Analyse geschrieben:
„Die Beteiligungszurückhaltung im Vergleich zu Wahlen gilt nicht nur für Plebiszite in Sachfragen, sondern auch für plebiszitäre Personalentscheidungen, wie z. B. Direktwahlen von Oberbürgermeistern. Durchschnittlich liegt die Beteiligung hier bei etwa 35 Prozent. In keiner deutschen Großstadt mit mehr als 100.000 Einwohnern amtiert ein Oberbürgermeister aufgrund einer Wahl, an der sich mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten beteiligt hat, wenn diese Wahl nicht mit einer allgemeinen Wahl wie der Rats-, Landtags-, Bundestags- oder Europawahl zusammengefallen ist. 19 von 73 Oberbürgermeistern in deutschen Großstädten amtieren sogar aufgrund von Wahlen, an denen weniger als ein Drittel der Wahlberechtigten teilgenommen hat.“ Mehr zu meiner Kritik an plebiszitären Personalentscheidungen finden Sie hier.
Die hohe Manipulierbarkeit plebiszitärer Verfahren ergibt sich beispielsweise daraus, dass sowohl die Formulierung der Fragestellung erheblichen Einfluss auf das Ergebnis haben kann als auch die Reduzierung auf JA/NEIN-Alternativen komplexe Zusammenhänge unzulässig vereinfacht bzw. oft andere Abstimmungsmotive eine Rolle spiele als die auf dem Stimmzettel abgefragten.
Im übrigen ist mir nicht bekannt, dass demokratische Parteien die Mobilisierung von Wahlhelfern mit Newsletter-Abonnements für die eigene Organisation kombinieren.
Demokratische Parteien werben weitestgehend überhaupt keine Wahlhelfer.
Ausgereifte direkt-demokratische Verfahren sind übrigens mehr als eine Ja/Nein-Entscheidung. Sie lassen z.B. Alternativvorschläge zu Bürger- und Ratsbegehren zu, wie jüngst in Thüringen eingeführt. Und die direkte Demokratie erlaubt Kompromiss-Vereinbarungen.
Offenbar sind Sie nicht mit der Rekrutierung von Wahlhelfern vertraut: Soweit diese nicht aus den Verwaltungen kommen, werden sie in den meisten Fällen von den Parteien gestellt, die selbst zu Wahl antreten. Das ist im Sinne der wechselseitigen Kontrolle bei der Stimmenauszählung ein lange demokratische Tradition.
Plebiszitäre Verfahren präsentieren auf dem Stimmzettel fast ausnahmslos JA/NEIN-Fragen. Das ist meist sogar gesetzlich vorgeschrieben, so z. B. im NRW-Gesetz über das Verfahren bei Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid (VIVBVEG) Art. 26, der im Wortlaut lautet: „Die Stimme lautet nur auf ,,Ja“ oder ,,Nein“.“
Sie bleiben leider weiterhin den empirischen Beleg dafür schuldig, dass Bürgerentscheide nicht repräsentativ sind. Stattdessen konstruieren Sie haltlose Vorwürfe gegen Mehr Demokratie. Wissenschaftlich und seriös geht anders.
Keine Antwort gibt es von Ihnen auch auf die Bitte, Vorschläge zur Erhöhung der Beteiligung an Bürgerentscheiden zu machen, um diese „repräsentativer“ zu gestalten. Schade.
Im Übrigen schätzen und fördern wir die repräsentative Demokratie, z.B. durch die Aktion Wahlhelfer: http://www.nrw.mehr-demokratie.de/wahlhelfer.html Allein zur Landtagswahl konnten wir rund 1.500 Wahlhelfer vermitteln. Direkte Demokratie stärkt die repräsentative Demokratie. Und die repräsentative Demokratie ist Teil der direkten Demokratie. Es gibt keinen Gegensatz, deshalb ist eine „Umerziehung“ weder gewollt, noch notwendig.
Den Begriff „repräsentativ“ im Zusammenhang mit plebiszitären Verfahren verwenden ausschliesslich Sie. Ich diskutiere hier im Unterschied dazu das Legitimationsproblem, das sich ergibt, wenn Plebiszite mit niedriger Beteiligung höher bewertet werden als Wahlen mit deutlich höherer Beteiligung. Der Beteiligungsunterschied von durchschnittlich 20-25 Prozent ist keine Kleinigkeit und nun wirklich vielfach empirisch belegt. Vor diesem Faktum die Augen zu schliessen, erhöht die Glaubwürdigkeit nicht.
Ich „konstruiere“ keine Vorwürfe gegen den Verein „Mehr Demokratie“, dessen Pressesprecher Sie in NRW sind, sondern weise darauf hin, dass dieser Lobbyverband nicht nur für mehr plebiszitäre Verfahren wirbt, sondern auch vorschlägt, dass dabei alle Beteiligungsquoren wegfallen sollen.
Ihre Aktion zur Gewinnung von Wahlhelfern ist an sich begrüssenswert, aber nicht ganz uneigennützig: Auf Ihrem Onlineformular ist als vorgegebene Einstellung ein Abonnement Ihres Newsletters zu finden …
Dass wie – wie von Ihnen behauptet – plebiszitäre Verfahren die repräsentative Demokratie stärken, bestreite ich – und zwar insbesondere für den hier diskutierten Fall, dass Plebiszite mit geringer Beteiligung Entscheidungen aushebeln können, die von Parlamenten getroffen sind, die durch eine wesentlich höhere Beteiligung legitimiert sind. Deshalb mache ich den Vorschlag, die Bindungswirkung von Plebisziten an der jeweiligen Wahlbeteiligung orientieren. Als Beteiligungsquorum für den Erfolg eines Bürger- oder Volksentscheids sollte also die Beteiligung an der letzten entsprechenden Wahl in der jeweiligen Gebietskörperschaft gelten. Ein solches Quoren würde sicherstellen, dass die Ergebnisse von Bürger- bzw. Volksentscheiden – unabhängig von anderen grundsätzlichen Problemen plebiszitärer Verfahren – zumindest im Blick auf die Beteiligung die gleiche Legitimationsgrundlage wie die Entscheidungen gewählter Parlamente haben. Dass der Lobbyverband „Mehr Demokratie“ dies ablehnt, bestätigt, dass auch dort von einer Plebiszitdistanz vieler Bürger ausgegangen wird.
Wer – wie ich das tue – plebiszitäre Verfahren aus vielerlei Gründen, die auf diesem Blog nachzulesen sind, für problematisch hält (zuletzt siehe „Brexit“), weil es sich um leicht manipulierbare Entscheidungsverfahren handelt, sieht keine Notwendigkeit, sich Gedanken um eine höhere Beteiligung daran zu machen. Im Unterschied zu Ihnen nehme ich die Plebiszit-Distanz der Bürger ernst, denn sehr viele von ihnen bekennen sich zur repräsentativen Demokratie, d. h. sie nehmen ihr Recht der Delegation ihrer Mitwirkungsrechte auf von ihnen gewählte Vertreter wahr und wollen nicht an in einer plebiszitären Dauerpolitisierung teilhaben. Wer Bürgerbeteiligung ernst nimmt, respektiert diese Haltung und versucht nicht wie Sie, Plebiszite als möglichst durchgängiges Entscheidungsprinzip durchsetzen.
Wir haben hier völlig unterschiedliche und gegensätzliche Sichtweisen, und so bleibt wohl nur im Sinne von John Locke: agree to disagree.
Mehr Demokratie geht es mit der Abschaffung von Abstimmungsquoren mitnichten um eine freie Bahn für „aktivistische Minderheiten“, da gerade Quoren wegen des beschriebenen Effekts diesen dienen. Wer Abstimmungsquoren abschafft, sorgt dafür, dass die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse sichtbar werden.
Übrigens hat sich auch der ehemalige bayerische Ministerpräsident Günther Beckstein für die Abschaffung von Abstimmungsquoren ausgesprochen: https://www.bayern.landtag.de/aktuelles/veranstaltungen/gaeste-und-begegnungen/03022016-festakt-im-landtag-zu-20-jahre-buergerbegehren/
Räte sind aufgrund der höheren Wahlbeteiligung nicht stärker legitimiert als Bürger in Bürgerentscheiden. Die Wähler treffen bei Wahlen nämlich nur eine allgemeine Richtungsentscheidung. Abweichende Mehrheiten zur Haltung der Parteien bei Einzelthemen werden hier nicht sichtbar, bei Bürgerentscheiden aber sehr wohl. Die direkte Demokratie macht also die repräsentative Demokratie repräsentativer.
P.S.: Einen empirisches Beleg für Ihre These zu Quoren und „sktivistischen Minderheiten“ bleiben Sie trotz vielfacher Bitte, Ihre These mit Daten zu untermauern, leider weiterhin schuldig.
Dass die in meinen Analysen dargestellten Daten und Fakten nicht in das Weltbild des von Ihnen vertretenen Lobbyverbandes „mehr Demokratie“ passen, ändert nichts an der Existenz dieser Fakten:
Wenn in plebiszitäre Verfahren – nach Ihren Vorstellungen sogar ohne jedes Quorum – wenige Abstimmende Entscheidungen überstimmen können, die von Parlamenten mit deutlich höherer Wahlbeteiligung getroffen wurden, dann erhalten Minderheiten ein größeres Gewicht als Mehrheiten. Deshalb sollte die Verbindlichkeit von Plebisziten daran geknüpft werden, dass sie zumindest die Beteiligung erreichen, mit der Parlamente gewählt wurden, deren Entscheidungen sie aushebeln wollen.
Herrn Beckstein und seine Meinung zu diesem Thema kenne ich, habe sie mehrfach mit ihm diskutiert und stimme ihr nicht zu.
Ihre Behauptung, dass Bürgerentscheide ohne Quoren nicht repräsentativ sind, bleibt weiter ohne empirischen Beleg. Und Sie ignorieren die empirischen Belege zur negativen Wirkung von Abstimmungsquoren. Was wären eigentlich konstruktiv gesehen Ihre Vorschläge zur Erhöhung der Abstimmungsbeteiligung bei Bürgerentscheiden?
Es ist nun wirklich offenkundig und unbestreitbar, dass plebiszitäre Verfahren durchgängig signifikant – d.h. durchschnittlich 20-25 Prozent – niedrigere Beteiligungen haben als die Wahlen auf der jeweiligen Ebene. Daraus ergibt sich ebenso offenkundig, ein Legitimationsproblem, wenn plebiszitäre Verfahren mit geringer Beteiligung Beschlüsse überstimmen, die Parlamente gefasst haben, deren Legitimation sich auf wesentlich höheren Wahlbeteiligungen fusst. Dieses Problem würde sich noch verschärfen, wenn – wie von Ihnen für den Lobbyverband „Mehr Demokratie“ gefordert – jegliches Quorum bei Plebisziten entfallen würde.
Im Unterschied zu Ihnen nehme ich die Plebiszit-Distanz der Bürger ernst, denn sehr viele von ihnen bekennen sich zur repräsentativen Demokratie, d. h. sie nehmen ihr Recht der Delegation ihrer Mitwirkungsrechte auf von ihnen gewählte Vertreter wahr und wollen nicht an in einer plebiszitären Dauerpolitisierung teilhaben. Wer Bürgerbeteiligung ernst nimmt, respektiert diese Haltung und versucht nicht, sie durch eine Art „Umerziehung“ Plebiszite als Entscheidungsprinzip durchsetzen.
Dass Sie die Abschaffung aller Quoren anstreben, zeigt im übrigen, dass ihr Ziel garnicht ist, dass die Mehrheit der Bürger solche Verfahren durch ihre Beteiligung legitimiert. So würde die Dominanz kleiner Minderheiten zementiert.
Gebetsmühlenhaft wiederholen Sie, dass sich bei Bürgerentscheiden ohne Quoren „aktivistische Minderheiten“ durchsetzen würden. Dies ohne jeglichen empirischen Beleg. Belegt ist vielmehr, dass bei Bürgerentscheiden mit Abstimmungsquoren die Mehrheitsverhältnisse dadurch verzerrt werden, dass es eine unterschiedliche Mobilisierung der Ja- und Nein-Seite gibt, weil die Gegner eines Bürgerbegehrens bei hohen Quoren, wie sie von Ihnen gefordert werden, darauf spekulieren, dass das zur Abstimmung stehende Bürgerbegehren das Quorum nicht erreicht oder die Mindestbeteiligung nicht erreicht wird. Hierdurch sind die Gegner eines Bürgerbegehrens unter den Abstimmenden unterrepräsentiert, so dass Quoren das Abstimmungsergebnis zugunsten von Bürgerbegehren verzerren.
Weiterhin gilt, dass der Vergleich von Bürgerentscheiden mit Wahlen hinsichtlich der Beteiligung ein Vergleich von Äpfeln mit Birnen ist. Während es bei Wahlen um eine Richtungsentscheidung für alle kommunalpolitischen Fragen für die nächsten Jahre geht, geht es bei Bürgerentscheiden um eine einzelne Sachfrage. Von dieser Entscheidung sind weniger Bürgerinnen und Bürger betroffen als von einer Kommunalwahl. Daher ist die Motivation zur Teilnahme mit Blick auf die Gesamtbevölkerung geringer. Wer wie in Bonn das direkt betroffene Schwimmbad oder generell kein Schwimmbad besucht, ist an einem Bürgerentscheid darüber wohl auch wenig interessiert und bleibt der Abstimmung eher fern. Dies hat aber nichts mit einer generellen Ablehnung der direkten Demokratie zu tun, weil derselbe Mensch an einem Bürgerentscheid zu einem anderen Thema, das ihn eher betrifft, mit höherer Wahrscheinlichkeit teilnehmen wird.
Dass es in Umfragen eine geringere Zustimmung zur direkten Demokratie im Vergleich zu Wahlen hat, damit zu tun, dass Wahlen a) ganz einfach tatsächlich wichtiger sind als ein einzelner Volksentscheid und b) vielen Menschen die Praxis-Erfahrung und damit die Nähe und Vertrautheit zur direkten Demokratie fehlt, weil Bürger- und Volksentscheide selten stattfinden.
Zum Vergleich: Eine Studie der Hanns-Seidel-Stiftung zur politischen Einstellung der Bürger in Bayern kam 2016 zu dem Ergebnis: „Nur noch 3% der Befragten lehnen den bundesweiten Volksentscheid entschieden ab, 75% befürworten die Einführung auf Bundesebene stark oder sehr stark.“ Grund: Die im Vergleich zu anderen Bundesländern lebhaftere Praxis der direkten Demokratie im Freistaat und damit eine größere Vertrautheit mit Volksentscheiden. Deshalb fordert auch die CSU in ihrem Grundsatzprogramm bundesweite Volksabstimmungen. Die Partei hat gelernt, dass die etwa bei der Einführung kommunaler Bürgerentscheide in Bayern 1995 gehegten Befürchtungen sich nicht bewahrheiten und die direkte Demokratie die repräsentative Demokratie sogar stärkt.
Es ist empirisch vielfach und auch diesem Blog belegt, dass plebiszitären Verfahren eine signifikant (!!!) geringere Beteiligung als Wahlen haben. Man kann über die Gründe spekulieren, muss aber diese Tatsache zur Kenntnis nehmen, wenn man Bürgerbeteiligung in dem Sinn ernst nimmt, dass man die Haltung der Bürger ernst nimmt – und das ist eben durchgehend eine mehrheitliche Distanz zu Plebisziten. Selbst die Zusendung des Stimmzettels an alle Stimmberechtigten in Bonn hat daran nichts geändert.
Ein Legitimationsproblem entsteht dann, wenn Plebiszite mit einer niedrigen Beteiligung Beschlüsse aufheben, die Parlamente getroffen haben, die mit wesentlich höherer Wahlbeteiligung legitimiert sind. Es geht hier immerhin um Beteiligungsunterschiede von durchschnittlich 20-25 Prozent. Es ist ist eben nicht mehr, sondern weniger Demokratie, wenn wenige bei einem Plebiszit abgegebene Stimmen ausreichen, um die deutlich höhere Stimmenzahl bei einer Wahl zu überstimmen.
Dass der Lobbyverband „Mehr Demokratie“ immer wieder – auch nach dem Bonner Bürgerentscheid – die Aufhebung aller Quoren bei Bürger- und Volksentscheiden fordert, zeigt, dass es dem Verband nicht um mehr Bürgerbeteiligung geht, sondern um möglichst freie Bahn für aktivistische Minderheiten. Da Demokratie aber jedem Bürger – unabhängig von seinem „Aktivitätsgrad“ – das gleiche Stimmgewicht zuspricht, ist es nicht demokratisch, wenn die Stimme bei einem Plebiszit höheres Gewicht hat als die Stimme bei einer Wahl.