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Stephan Eisel
Das Bonner Plebiszit-Paradox
Zehn Gründe für die Überlegenheit der repräsentativen Demokratie
In Bonn hat innerhalb von 15 Monaten die gleiche Bürgerinitiative zwei Bürgerentscheide gegen Ratsbeschlüsse zu den Bonner Schwimmbädern erzwungen. Mit jeweils sehr knappen Mehrheiten kam es dabei in kurzer Zeit zu zwei gegensätzlichen Abstimmungsergebnissen.:
Bürgerentscheid | 17. März – 21. April 2017 | 2. Juli – 3. August 2018 |
Frage | „Soll das Kurfürstenbad erhalten, wieder nutzbar gemacht und saniert werden ?“ | Soll der Neubau eines Schwimmbades in Bonn-Dottendorf gestoppt werden ? |
Ja | 48,3 Prozent | 51,9 Prozent |
Nein | 51,6 Prozent | 48,6 Prozent |
Beteiligung | 39,2 Prozent | 42, 8 Prozent |
Nachdem im ersten Bürgerentscheid die Sanierung eines vorhandenen Bades abgelehnt wurde, hatte der Rat den Neubau eines Bades beschlossen, der im zweiten Bürgerentscheid abgelehnt wurde.
Die Bonner Bäder-Plebiszit-Logik lautet nach diesen Bürgerentscheiden:
2017 gegen Sanierung – 2018 gegen Neubau.
Wie in einem Brennglas wurde bei den Bonner Bürgerentscheiden erneut deutlich, dass Plebiszite höchst problematische Wege der Entscheidungsfindung sind. Plebiszite führen nicht zu mehr, sondern zu weniger Demokratie sind und der repräsentativen Demokratie deutlich unterlegen:
1) Plebiszite entlassen die Verursacher der Entscheidung aus der Verantwortung für die Folgen
Die beiden Bonner Bürgerentscheide haben innerhalb von 15 Monaten mit gegensätzlichen Ergebnissen bereits getroffene Ratsentscheidungen außer Kraft gesetzt und überlassen es zugleich dem Rat, die dadurch entstandene Blockade aufzuheben. Diejenigen die die Plebiszite herbeigeführt haben, überlassen es anderen, die Folgen zu beseitigen. So wird das für die Demokratie elementare Prinzip der Koppelung von Entscheidungshoheit und Entscheidungsverantwortung ausgehebelt.
2) Plebiszite fördern die Entscheidungshoheit von Minderheiten
Es ist auffällig, dass die Beteiligung an plebiszitären Verfahren in Deutschland sowohl in Sach- als auch Personalfragen regelmäßig um 20 – 30 Prozent niedriger liegt als bei entsprechenden Parlamentswahlen. Meinungsumfragen zeigen, dass 94 Prozent der Bundesbürger in Wahlen die beste Form der politischen Beteiligung sehen. Fast ein Drittel lehnen plebiszitäre Verfahren grundsätzlich ab, fast 40 Prozent sagen ausdrücklich, sie wollten sich über Wahlen hinaus nicht am politischen Prozeß beteiligen. Für diese Bürger sind andere Dinge wichtiger als Politik. Plebisziten fehlt der Respekt vor dem Delegationsrecht der Bürgern, sie wollen den ständig politisierten Bürger. So bevorzugen Plebiszite diese Minderheit. Obwohl in Bonn allen Wahlberechtigten die Stimmzettel zugesandt wurden und diese portofrei zurück geschickt werden konnten, lag die Beteiligung um 17,6 bzw. 14 Prozent unter der (schon niedrigen) Wahlbeteiligung von 56,8 Prozent bei der letzten Ratswahl 2014.
3) Plebiszite reduzieren komplexe Sachverhalte irreführend auf verkürzende Ja/Nein-Fragen
Zwangsläufig eignen sich plebiszitäre Verfahren nicht zur Differenzierung: Auf dem Stimmzettel reduziert sich die Entscheidung auf „Ja“ oder „Nein“. So wird der Eindruck vermittelt, komplizierte Fragen seien einfach zu beantworten. Umso größer ist die Ernüchterung, wenn sich die reale Welt nach einem Votum doch nicht in einer Schwarz-Weiß-Schablone darstellt. Kaum ist die Ja/Nein-Abstimmung vorbei, werden Gespräche gefordert, weil das Thema so viele Facetten habe. Im parlamentarischen Alltag findet die Befassung mit den Einzelheiten vor und nicht nach der Entscheidung statt. So wird rechtzeitig vor Entscheidungen deren Komplexität deutlich und kann in Beschlüssen abgebildet werden.
4) Plebiszite lassen sich leicht für sachfremde Themen instrumentalisieren
Als die Franzosen und Niederländer 2005 den Maastrichter Vertrag ablehnten, ging es weniger um Europa als den allgemeinen Unmut über die jeweilige Regierung. Der Brexit war zum großen Teil eine Abstimmung über Migration und Ausländeranteil. Auch sich bei den Bonner Bäder-Plebiszit wurde von den Initiatoren geschickt die im Stadtteil Bad Godesberg ganz unabhängig von der Bäderfrage so empfundene allgemeine kommunalpolitische Zurücksetzung auf die Bäderfrage gelenkt. Dort wich das Ergebnis um fast 15 Prozent von anderen Stadtteilen ab.
5) Plebiszite wirken wie Magnete für Protestwähler
So wie sich beim Brexit höchst gegensätzliche Proteststimmungen verbündet haben, fanden sich bei beiden Bonner Bäderentscheiden politische Gruppierungen zusammen, die nur das „Nein“ miteinander verband. Bei konstruktiven Lösungen haben sie höchst unterschiedliche Vorstellungen. Es ist kein Zufall, dass bei den meistens Plebisziten das „Nein“ gewinnt.
6) Plebiszite sind ein besonderes Tummelfeld für Demagogen
Wirklichkeitsfremde Demagogen fühlen sich bei Plebisziten besonders wohl, weil sie keine Verantwortung für die Folgen ihres Tuns tragen, Ja/Nein-Alternativen eine einfache Welt vorspiegeln und Protestwähler besonders anfällig für populistische Irreführungen sind. Das kann auch bei Wahlen zum Problem werden. Dort ist allerdings wegen der der repräsentativen Demokratie wesenseigenen Übernahme von Verantwortung für die Folgen eigenen Tuns der Druck zur Realitätsbezogenheit größer.
7) Plebiszite sind nur schwer korrigierbar
Verändern sich die Entscheidungsvoraussetzungen sind Plebiszite nicht so einfach zu korrigieren wie Parlamentsentscheidungen. Parlamente können wesentlich flexibler reagieren, wenn die Umstände eine Neubewertung der Situation nahelegen. Plebisziten sind solche Korrekturen wesensfremd. So läßt sich auch beim Bonner Bürgerentscheid durch die gesetzlich vorgeschriebene Bindungsfrist der erste Entscheid nicht einfach korrigieren, weil der zweite ein gegensätzliches Ergebnis brachte.
8) Plebiszite eignen sich nicht zum Interessensausgleich
In ihrer systemimmanenten Vereinfachungstendenz setzen Plebiszite im Unterschied zu Parlamenten nicht auf Interessensausgleich, sondern auf die Wucht der Mehrheitsentscheidung. Es gibt nur Sieger und Verlierer – auch wenn wie in Bonn die Mehrheiten äußerst knapp sind.
9) Wer die Frage bestimmt, kann das Ergebnis beeinflussen
Die Formulierung der Plebiszitfragen hat einen hohen Einfluß auf das Ergebnis. Die Fragen können Entscheidungsalternativen und – folgen verschleiern, durch ihre Formulierung bestimmte Antworten suggerieren oder mit der Fragestellung verwirren. Auch beim Bonner Bäderentscheid fand sich die tatsächliche Alternative „Sanierung oder Neubau“ auf keinem der Stimmzettel.
10) Plebiszite spalten die Gesellschaft
Wenn Plebiszite nicht – wie häufig in Diktaturen – rein akklamatorischen Charakter haben, polarisieren sie die Gesellschaft: Entweder sie sind in ihren Ergebnissen knapp oder sie haben wegen der geringen Beteiligung keine Bindungskraft. Gerade das Bonner Beispiel zeigt, dass Plebiszite keine befriedende Wirkung haben. Sonst hätten die Verlierer des ersten Bürgerentscheids nicht einen zweiten initiiert.
Hallo, Herr Eisel,
wir sind uns bei einer Veranstaltung des Landesverbandes NRW von „Mehr Demokratie e.V.“ schon mal begegnet, deshalb sind mir Ihre Argumente auch nicht ganz fremd.
Dazu einige Anmerkungen:
Vorab: Bitte werfen sie nicht dauernd „Plebiszite von oben“ (Brexit, Verfassungsänderung in der Türkei etc.) oder auch Ratsbürgerentscheide mit „Volksabstimmungen von unten“ durcheinander. Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe.
Ich stimme Ihnen zu, Plebiszite sind eine besonderes Tummelfeld für Demagogen, das gilt aber vor allem und in erster Linie für Plebiszite „von oben“, die von Parteien/Politiker*innen für den eigenen Machterhalt initiiert, manipuliert und instrumentalisiert werden. In Bonn waren weder beim Bürgerentscheid 2017 noch beim Bürgerentscheid 2018 „Demagogen“ auf Bürgerseite unterwegs. Statt die direkte Demokratie mit diesem Argument zu diskreditieren, sollten Sie lieber Ihre Einflussmöglichkeiten in der CDU nutzen, um die erschreckend große Zahl populistischer und demagogischer Spitzenpolitiker*innen Ihrer Schwesterpartei CSU auszubremsen.
Nun zu Ihren anderen Argumenten:
Die Koppelung zwischen Entscheidungshoheit und Entscheidungsverantwortung ist ein wunderbares Prinzip, in der politischen Praxis aber meist graue Theorie. Denn der Zusammenhang zwischen politischen Entscheidungen und deren Folgen ist nur selten ein unmittelbarer und nachvollziehbarer. Bleiben wir bei Bonn: welche Politiker*innen haben denn für das Herunterwirtschaften der Bonner Bäder, also für die Zerstörung öffentlichen Eigentums die Verantwortung übernommen? Wer wird wohl für die weiter zunehmende Verschuldung oder für das Desaster beim WCCB zur Rechenschaft gezogen? Wer trägt die Folgen einer Politik, die den Kommunen immer mehr Pflichtaufgaben zuschanzt, ohne sie mit ausreichenden Finanzmitteln auszustatten?
Dass sich auf kommunaler Ebene zu wenig Bürger*innen an Begehren und Entscheiden beteiligen, ist kein stichhaltiger Einwand: es geht bei Volksabstimmungen ja nicht um Wahlen, sondern immer um eine konkrete Sachfrage, für die sich nicht alle Bürger*innen interessieren. Beachtliche 39, 09 % der Bonner*innen haben 2017 beim Bürgerentscheid für den Erhalt des Kurfürstenbades mitgemacht. Beim gerade stattgefundenen Entscheid waren es sogar 42, 87 % – trotz der Ferienzeit. Das ist nicht so weit entfernt von den 45, 1 %, die sich an der OB-Wahl 2014 beteiligt haben. Aber statt den Bürgerinitiativen Anerkennung dafür zu zollen, dass sie so viele Bürger*innen für die Teilnahme an dieser Abstimmung mobilisieren konnten, ergreifen Sie Partei für den Bürger, der sich außer an Wahlen nicht am politischen Prozess beteiligen will. Das ist sein gutes Recht, aber leider kein Beitrag zu einer lebendigen Demokratie.
Irreführend ist Ihre Behauptung „Plebiszite reduzieren komplexe Sachverhalte auf verkürzende Ja/Nein–Fragen“. Richtig ist, dass nach einem mehr oder weniger langwierigen und meist intransparenten Gesetzgebungs- bzw. Entscheidungsprozess die gewählten Volksvertreter*innen Ja oder Nein zu einem Gesetzentwurf oder einer Beschlussvorlage sagen. Nicht anders ist es bei Volksabstimmungen: bevor abgestimmt wird, vergehen in der Regel Wochen und Monate, die für umfassende und transparente Informationen und Diskussionen genutzt werden können. Dafür hätten der OB und seine Ratsmehrheit die Führung übernehmen müssen: mit umfassenden und detaillierten Informationen über das strittige Projekt, mit öffentlichen Pro-Contra-Veranstaltungen in den vier Stadtbezirken, mit der Verschickung des Abstimmungsheftes etc. etc. Stattdessen haben der Bonner OB und seine Ratsmehrheit sich einer offenen und öffentlichen Pro und Contra-Debatte verweigert und die Stadtwerke und den Stadtsportbund für Werbezwecke eingespannt.
Dass Plebiszite auch Protestwähler*innen anziehen, würde ich nie bestreiten, das gilt aber auch für Wahlen. Protestwähler*innen haben ja schließlich auch die AfD in den Bundestag gebracht.
Plebiszite haben nach den geltenden Regeln eine Bindungswirkung von 2 Jahren, und sie können sogar vorzeitig durch Ratsbürgerentscheide geändert werden. Das rechtfertigt nicht Ihre Behauptung, dass Bürgerentscheide „nur schwer korrigierbar“ seien.
Der Ratsbeschluss von Dezember 2017, ein neues Bad in Dottendorf zu bauen, konnte nach den Regeln der GO NRW nicht anders als durch die Frage: „Soll der Bau eines neuen Schwimmbades….. gestoppt werden?“ aufgehoben werden. Wenn Sie also möchten, dass die Abstimmungsfrage Alternativen ermöglicht, dann setzen Sie sich bitte dafür ein, die Gemeindeordnung von NRW zu reformieren; die verlangt nämlich ein klares Ja oder Nein.
Richtig, Plebiszite eignen sich nicht zum Interessenausgleich und können die Gesellschaft spalten, das ist unvermeidlich. Sie sollen in einer wichtigen Sachfrage Klarheit schaffen, nicht mehr und nicht weniger. Danach ist die Politik gefordert, für Interessenausgleich, Kompromiss und Befriedung zu sorgen –am besten zusammen mit den Bürgerinitiativen und möglichst vielen engagementbereiten Bürger*innen.
Schlussbemerkung:
Plebiszite „von unten“ sind eine Schule der Demokratie, vorausgesetzt, sie werden demokratischen Standards gerecht. Dann helfen sie gegen Politikerverdrossenheit, ermutigen die Bürger*innen zum Engagement und zu einer konstruktiven Debattenkultur, können Themen auf die politische Agenda setzen, die Parlamente oder Räte bisher nicht aufgegriffen haben, neu verabschiedete Gesetze oder Entscheidungen wieder rückgängig machen, können verhindern, dass Parlamente und Räte Entscheidungen gegen die Mehrheit der Bevölkerung treffen ( wie das z.B. bei der Sterbehilfe geschehen ist.) Das sind nur einige positive Effekte, die sich natürlich nicht sofort, aber im Laufe der Zeit einstellen würden. Kurz: Wir brauchen die direkte Demokratie als Ergänzung und Korrektiv der repräsentativen Demokratie – auch auf Bundesebene. 70% der Bundesbürger/-innen wünschen sich das seit Jahren.
Gisela von Mutius
Kennedyallee 16 b
53175 Bonn
Mitglied im Landesvorstand NRW von „Mehr Demokratie“
http://www.nrw.mehr-demokratie.de
Sehr geehrte Frau von Mutius,
auf Ihre parteipolitische Polemik will ich nicht eingehen, denn hier geht es um eine sachliche Diskussion von Bürgerbeteiligung. Solche Polemik legt übrigen nur die eigene Argumentationsarmut offen.
Meines Erachtens bringen die Plebiszite einer vermeintlich „direkten“ Demokratie für die Bürger nicht mehr, sondern weniger Demokratie. dazu habe ich meine Argumente ja ausführlich dargelegt und will nicht alles wiederholen. Deshalb nur einige weitere konkrete Anmerkungen:
Der Begriff Plebiszit wird in der in der Politikwissenschaft übrigens keineswegs so verwendet, wie Sie es gerne hätten. Ganz im Gegenteil unterscheidet zum Beispiel die Bundeszentrale für Politische Bildung zwischen Verfahren, die “ durch eine Regierung oder ein Parlament „von oben“ eingeleitet (Referendum) oder durch die Bürger „von unten“ als Volksgesetzgebung initiiert (Plebiszit)“ sind- also genau gegenteilig zu ihrer Definition.
Dass bei Plebisziten keine Bindung zwischen Entscheidungshoheit und Entscheidungsverantwortung besteht, ist doch offenkundig: Wer trägt denn z. B. beim Bonner Bäderentscheid die Verantwortung für die Folgen und wen könnte ich – wie bei Ratswahlen – wie zur Verantwortung ziehen ? Das ist bei dem Entscheidungen des Rates, die namentlich zuzuordnen sind, sehr wohl möglich und zwar spätestens bei der nächsten Wahl. Im übrigen entlarvt sich hier Darstellung selbst: Plebiszite können demnach durchaus für die Spaltung der Gesellschaft sorgen, „die Politik“ (d. h. die gewählte Volksvertreter) soll dann die Folgen beseitigen. Es wird in aufgefallen sein, dass z. B. sehr viele Bürger diese Arbeitsteilung und deswegen auch plebiszitäre Verfahren ablehnen.
Dass Sie die geringe Beteiligung an Plebisziten nicht ernst nehmen, ist bedauerlich – denn tatsächliche Bürgerbeteiligung nimmt die Bürger und ihr Verhalten ernst: Die deutliche Mehrheit zeigt eben plebiszitären Verfahren die kalte Schulter und sollten ihnen deshalb nicht aufgezwungen werden.
Dass der Lobbyverband „Mehr Demokratie“ dies anders sieht, weiß ich, muss dem deshalb aber nicht zustimmen.
Stephan Eisel
Sehr geehrter Herr Eisel,
mir ist bekannt, dass es unterschiedliche Definitionen gibt, ich habe den Begriff Plebiszit einfach pragmatisch beibehalten, weil SIE ihn durchgängig verwendet haben, ohne klar zwischen „von unten“ oder „von oben“ initiierten Verfahren zu unterscheiden. Ihr Fehler, nicht meiner..
Parteipolitische Polemik kann ich in meinem Beitrag nirgendwo erkennen, oder meinen Sie die Kritik an Ihren Parteifreunden aus der CSU? Dann stehe ich gerne zu meiner „Argumentationsarmut“.
Schönes Wochenende
Gisela von Mutius